Die Gabe des Adlers
Kürzlich stolperte ich im Oxfam-Buchladen über das Buch eines Castaneda-Schülers. Es hieß Der Magie des Lebens folgen, und so einem Titel konnte ich natürlich nicht widerstehen, auch wenn ich mit Castaneda sonst nicht viel am Hut habe. Darin ist auch von der Gabe des Adlers die Rede. Nach toltekischer Lehre soll diese etwas mit dem Augenblick des Todes zu tun haben. Das erinnerte mich daran, daß ich bei meinen schamanischen / ethnographischen Büchern ein kleines Büchlein namens Die Gabe des Adlers stehen habe, und so suchte ich es heraus, um zu sehen, ob es sich da etwa um dieselbe Tradition handelte. Bis auf den Titel hatte ich nämlich das meiste davon vergessen, da ich schon ewig nicht mehr darin gelesen hatte.
Es war ein Buch von Knud Rasmussen mit Eskimomythen, und die Gabe des Adlers bei den Eskimo war etwas ganz anderes als bei den Tolteken und mir viel sympathischer. Der Adler in der Eskimogeschichte brachte nämlich den Menschen bei, Feste zu feiern, Lieder zu erfinden, zu singen und zu tanzen, sich zu treffen und miteinander Spaß zu haben. Vorher waren sie nur mit Überleben beschäftigt, kannten keine Freude und wußten nicht, wie man Worte und Töne zu Liedern verbindet. Doch als die Menschen gelernt hatten zu feiern, wurde auch die alte Adlermutter wieder jung. Das heißt, auch die Himmelswesen werden davon beeinflußt, was wir hier unten treiben und ob wir Freude am Leben haben oder nicht. 😉 (Eine gekürzte Version der Geschichte findet sich hier.)
Der Adler konnte auch seine Gestalt verwandeln. Wenn er seine Kapuze abnahm, war er ein Mensch in silbern schimmerndem Gewand. Und auch andere Wesen in der Geschichte konnten mehr als eine Gestalt annehmen. Ich las die Geschichte mit großer Begeisterung laut, und das machte mir so viel Spaß, daß ich sogar darüber nachdachte, ob ich mich nicht als Lesepatin für Kinder melden sollte.
Danach war ich so „drin“ im Geschichtenerzählen, daß sich alsbald eine neue Geschichte entspann.
Unheimliche Begegnung der dritten Art
Es war einmal eine recht merkwürdige Frau, aber sie selbst wußte nicht, daß sie merkwürdig war. Sie fand sich selbst ganz normal. Eines Tages ging sie in den Wald, um Kräuter zu sammeln, und kam auf eine Lichtung. Auf der Lichtung stand das seltsamste Wesen, das sie je gesehen hatte. Es sah aus wie ein Bündel Schlangen, die alle auf den Schwanzspitzen standen, und oben auf jeder Schlange war ein großes Auge. Die vielen Augen starrten alle in ihre Richtung, bis auf eines, welches unverwandt gen Himmel starrte. Als sie sich so angestarrt fühlte, wurde die Frau sehr nervös,.
Das Wesen sandte ihr eine telepathische Botschaft, denn sprechen konnte es scheinbar nicht so richtig. In ihrem Kopf vernahm sie die Worte: „Was ist denn los mit dir? Du zitterst, und du siehst so ängstlich aus.“
Sie sagte: „Ich habe noch nie ein Wesen wie dich gesehen. Wer bist du? Was machst du hier? Und warum starrst du mich so seltsam an?“
Das Wesen antwortete: „Ich schaue immer alles an, was ich noch nicht kenne, und dich kenne ich noch nicht. Ich sehe dich heute zum ersten Mal, und ich möchte möglichst alle Details in mich aufnehmen.“
Die Frau sagte: „Was gibt es denn da schon groß zu sehen? Ich sehe genauso aus wie alle Menschen, ganz normal.“
Das Wesen versetzte: „Glaubst du das wirklich? Guck mal an dir runter.“
Die Frau schaute an sich herunter, und was sie sah, erstaunte sie zutiefst. Sie hatte die Füße eines Greifen, den Schwanz eines Löwen und die Flügel eines Vogels, aber das war ihr noch nie zuvor aufgefallen. „Was hast du mit mir gemacht?“ sagte sie zu dem Wesen. „Vorher sah ich aus wie ein ganz normaler Mensch.“
Das Wesen sagte: „Ich habe gar nichts getan. Ich brauche nichts zu tun. Ich sehe dich einfach, wie du bist, und so siehst du nun mal aus.“
Die Frau sagte: „Aber ich weiß doch, wie ich aussehe und wie ich vorher ausgesehen habe. Ich sah aus wie ein normaler Mensch und hatte ganz normale Füße, nicht solche komischen Klauen. Was ist das für ein seltsames Trugbild?“
Das Wesen antwortete: „Es verhält sich genau umgekehrt. Was du bist jetzt gesehen hast, war das Trugbild. Das hier ist, wie du wirklich bist.“
Da bekam sie es mit der Angst zu tun. „Aber so kann ich doch nicht unter die Menschen gehen! Sie werden mich in einen Zoo stecken, oder noch schlimmer, mich gleich umbringen!“
Das Wesen beruhigte sie: „Du brauchst keine Angst zu haben, denn die Menschen sehen immer nur, was sie sehen wollen. Du hast es ja vorher auch getan. Du hast dich so gesehen, weil sie dir gesagt haben, daß du so aussiehst. Weil sie dich ja auch selber so wahrnehmen. Jetzt weißt du, wie du wirklich aussiehst. Doch nur diejenigen, deren Augen offen sind, können das erkennen. Die anderen werden einfach sehen, was sie immer gesehen haben.“
„Aber ich verstehe das nicht!“ sagte die Frau. „Wie kann das sein? Ich bin immer ein Mensch gewesen, und ich habe noch nie so komisch ausgesehen. Ich habe ja einen Spiegel zuhause. Ich weiß doch, wie mein Körper aussieht! Ich kann meine Füße sehen, wenn ich runtergucke, und sie sahen immer wie ganz normale Menschenfüße aus.“
„Nicht dein Spiegel ist es, der lügt“, sagte das Wesen, „sondern dein Geist ist es, der die Wahrheit nicht sehen will. Der Spiegel wird dir immer nur das zeigen, was du erkennen kannst. Und was du erkennen kannst, ist immer von dem abhängig, was zu sehen du gewillt bist. Und wenn du etwas nicht sehen willst, so wirst du es nicht sehen. Aber du wärst nicht heute hierhergekommen, wenn du nicht bereit wärst, dich endlich so zu sehen, wie du wirklich bist.“
„Was soll ich also tun?“ fragte die Frau. „Du hast mir jetzt gezeigt, was du sagst, wie ich wirklich aussehe. Aber ich werde ja zurückgehen aus diesem Wald. Was soll ich mit diesem Wissen tun?“
„Vorerst noch gar nichts“, sagte das Schlangenwesen. „Gewöhne dich einfach erst einmal an den Gedanken. Das wird schon schwer genug für dich sein, da du dein ganzes Leben in dieser Täuschung verbracht hast. Wenn du aber bereit bist, komm wieder hierher, dann wirst du weitere Dinge erfahren.“
„Was ist, wenn ich jetzt Alpträume bekomme?“ fragte die Frau. „Denn ich muß gestehen, diese Sache macht mir Angst.“
„Das verstehe ich gut“, sagte das Schlangenwesen. „Es kann Angst hervorrufen, wenn man aus seinen Gewohnheiten geschleudert wird. Wenn du schlafen gehst, leg einen lila Stein unter dein Kopfkissen, und es werden keine bösen Träume kommen.“
„Ich danke dir“, sagte die Frau. „Das beruhigt mich wenigstens ein bißchen. Kannst du mir noch sagen, warum dein eines Auge immer zum Himmel schaut?“
„Weil ich die Verbindung herstelle zwischen dem Himmel und der Erde. Und deswegen muß mein eines Auge immer nach oben schauen. Aber zum Glück habe ich ja noch genügend andere Augen, mit denen ich meine Umgebung wahrnehmen kann.“
„Ja, davon hast du wahrlich jede Menge. Und wer bin ich, mich zu beschweren, daß ich so seltsam aussehe? Du siehst noch viel merkwürdiger aus, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Du darfst das gerne sagen“, sagte das Schlangenwesen. „Ich weiß genau, wie ich aussehe. Der Unterschied ist nur, ich weiß es, und ich laufe nicht weg davor. Und das gibt mir die Möglichkeit, viel mehr zu sehen, als die Leute, die versuchen, sich etwas vorzumachen, erkennen können.“
„Dann bedanke ich mich für deine extrem unwillkommenen und sehr beunruhigenden Informationen“, sagte die Frau, „und werde mich von diesem unheimlichen Ort erst einmal wegbegeben und etwas zu mir kommen.“
„Tu das“, sagte das Schlangenwesen. „Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du weitere Informationen benötigen solltest.“
„Ja, vielen Dank“, sagte sie Frau. Und sie wandte sich um und machte sich auf den Weg zurück aus dem Wald. 99 Augen starrten hinter ihr her.