Qarrtsiluni

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Qarrtsiluni – Die Geburt der heiligen Gesänge aus der Kraft der Stille

Veröffentlicht Oktober 28, 2014 von Zarah

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Die Kraft der Stille

Vergangenes Wochenende, im Nachklang der Sonnenfinsternis und mit Merkur stationär in meinem 12. Haus – dem mystischen, von Neptun regierten Haus der  Geheimnisse – hatte ich das Gefühl eines Schwebezustands, als würde die Zeit stillstehen. Synchronistischerweise fand  ich während dieser Zeit beim Blättern in Rasmussens Buch einen kleinen Abschnitt über die Entstehung der heiligen Gesänge der Eskimo aus der Kraft der Dunkelheit und Stille.

Rasmussens Expeditionsgruppe hatte in stürmischem Wetter Zuflucht in einer Eskimosiedlung gefunden, wo man sich erbot, ihn sogleich zur heiligen Stätte des Ortes zu führen. Dort lernte er die alte Eskimofrau Majuaq kennen. Sie war erstaunt, daß er ihre Sprache sprach, obwohl er wie ein Weißer aussah. Rasmussens Vater war Däne, doch seine Mutter war eine halbe Inuit, und er war im grönländischen Teil Dänemarks aufgewachsen und hatte dort die Sprache und die traditionelle Lebensweise der Eskimo kennengelernt. Zu seinem Erstaunen stellte er bei seiner großen Schlittenreise durch Kanada und Alaska fest, daß er sich mit dieser Sprache auch dort verständlich machen konnte.

Doch die alte Majuaq belehrte ihn, als er sie um Geschichten bat, daß man nicht einfach so drauflos erzäinehlen konnte. Man müsse sich nach innen wenden und mit der Kraft der Stille und der Dunkelheit verbinden, bevor man anfing zu sprechen oder zu singen. Kein Licht, kein Geräusch dürfe stören. Dann würden die Dinge, die gesagt oder gesungen werden wollten, aus der Tiefe aufsteigen.

Hier folgt nun, was Majuaq Knud Rasmussen in jener Sturmnacht erzählte:

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Qarrtsiluni – Die Entstehung der heiligen Gesänge

„(S)age mir, wie lange bleibst du bei uns? Es fordert Zeit, wenn ich erzählen soll. Meine Stimme ist schwach, und meine Zunge ist schlaff; ich weiß viel, aber ich erzähle langsam.“

„ich weiß nicht recht, wie lange“, antwortete ich, denn ich durfte ihr nicht sagen, daß wir unsere Reise fortsetzen mußten, sobald sich das Wetter wieder besserte. Ich merkte schon, daß die alte Majuaq gründlich war wie ein weiser Gelehrter, der in die Tiefe geht, wenn wirklich über Geschichte geredet werden soll. Und sie antwortete mir: „Wer nicht weiß, wann er reisen wird, hat keine eilige Arbeit. Das ist gut. Aber erst muß ich nachdenken, denn wir Alten haben einen Brauch, der Qarrtsiluni heißt.“

„Was ist Qarrtsiluni?“

„Das werde ich dir jetzt erzählen, aber mehr bekommst du heute auch nicht zu hören.“

Und nun erzählte Majuaq mit großen Handbewegungen, unaufhörlich ihre krummen Arme schwingend:

“In alten Tagen feierten wir jeden Herbst große Feste zu Ehren der Seele des Wales, und diese Feste mußten stets mit neuen Gesängen eröffnet werden, die von den Männern zusammengestellt wurden. Man sollte die Geister mit neuen Worten anrufen; alte Lieder durften nie gesungen werden, wenn Männer und Frauen tanzten, um den großen Fangtieren zu huldigen. Und da hatten wir den Brauch, daß in jener Zeit, in der die Männer ihre Worte zu diesen Hymnen erfanden, alle Lampen ausgelöscht werden mußten. Es sollte dunkel und still im Festhaus sein. Nichts durfte stören, nichts zerstreuen. In tiefem Schweigen saßen sie in der Dunkelheit und dachten nach, alle Männer, sowohl die alten wie die jungen, ja, sogar die kleinsten Knäblein, wenn sie nur eben so groß waren, daß sie sprechen konnten. Diese Stille war es, die wir „Qarrtsiluni“ nannten. Sie bedeutet, daß man auf etwas wartet, das aufbrechen soll.

Denn unsere Vorväter hatten den Glauben, daß die Gesänge in der Stille geboren werden, während alle sich nur dazu anstrengen, schöne Gedanken zu denken. Dann entstehen sie im Gemüt des Menschen und steigen herauf wie Blasen aus der Tiefe des Meeres, die Luft suchen, um aufzubrechen. So entstehen die heiligen Gesänge.“

Das war alles, was Majuaq mir erzählen konnte. Im Laufe der Nacht legte sich der Wind, und wir setzten unsere Reise fort.

Aber bei einem kurzen Begegnen und in einem einzigen Wort gab sie mir eine schlichte Würdigung des demütigen Ernstes, der notwendig ist, wenn man anderen wirklich Anteil geben will an dem, was aus der heiligen Tiefe des menschlichen Gemütes kommt.

Qarrtsiluni – Stille.

Möge denn dieses Wort die Botschaft einer alten, naiven und unwissenden Eskimofrau sein an alle, die ihren Mitmenschen etwas sagen wollen in Büchern, in Bildern, in Stein oder in irgendeiner anderen Form der Kunst. Ein besseres Motto für seine Arbeit kann niemand finden. –̶

Majuaq /  Knud Rasmussen:

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Diese Botschaft aus einer fernen Vergangenheit und einer heute fast versunkenen Kultur hat mich besonders berührt, da ich ja selber so etwas wie „heilige Gesänge“ mache. Und daß die Gesänge niemals gleich sein dürfen, ist auch meine Erfahrung. Sie entstehen immer aus der Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment, und man muß still werden und nach innen gehen, um sich darauf einzustimmen.

Aus meiner Sicht war diese alte Eskimofrau weder naiv noch unwissend, sondern sehr weise. Doch Rasmussen schrieb zu einer Zeit, da indigene Völker noch als „primitiv“ galten, und mußte es deshalb vielleicht so formulieren, daß seine LeserInnen sich „überlegen“ fühlen konnten  …

Ich wünsche euch allen ein wunderbares Eintauchen in die Tiefe und die Stille dieser Jahreszeit!

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